Die Zeit unbezahlter Überstunden, zu kurzer Pausen und zu langer Arbeitszeiten neigt sich dem Ende zu: Der Europäische Gerichtshof (EuGH) macht die lückenlose und fälschungssichere Zeiterfassung der Arbeitszeit zur Pflicht.

Dienstbeginn, Pausen und Feierabend – Button auf einer App drücken, fertig ist die künftige Zeiterfassung aus Sicht der Pflegekräfte. Am Monatsende erhalten alle Angestellten (nicht nur in der Pflege) per automatischer Email oder als Ausdruck eine Liste der exakt erfassten Arbeitszeiten.

Der Stein kam in Spanien ins Rollen: Die Gewerkschaft CCOO verklagte die spanische Tochtergesellschaft der Deutschen Bank, ein System zur Erfassung der von deren Mitarbeitern geleisteten täglichen Arbeitszeit einzurichten. Dabei berief sich die Gewerkschaft auf die EU Richtlinie 2003/88/EG, die bereits seit fast 16 Jahren gilt, Dort steht wörtlich:

„Gegenstand dieser Richtlinie sind die täglichen und wöchentlichen Mindestruhezeiten, der Mindestjahresurlaub, die Ruhepausen und die wöchentliche Höchstarbeitszeit sowie bestimmte Aspekte der Nacht- und der Schichtarbeit sowie des Arbeitsrhythmus.

Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit jedem Arbeitnehmer pro 24-Stunden-Zeitraum eine Mindestruhezeit von elf zusammenhängenden Stunden gewährt wird.

Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit jedem Arbeitnehmer pro Siebentageszeitraum eine kontinuierliche Mindestruhezeit von 24 Stunden zuzüglich der täglichen Ruhezeit von elf Stunden gemäß Artikel 3 gewährt wird. Wenn objektive, technische oder arbeitsorganisatorische Umstände dies rechtfertigen, kann eine Mindestruhezeit von 24 Stunden gewählt werden.

Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit … die durchschnittliche Arbeitszeit pro Siebentageszeitraum 48 Stunden einschließlich der Überstunden nicht überschreitet.“

Der EuGH stellte fest, dass es Arbeitnehmern ohne exakte und manipulationssichere Arbeitszeiterfassung unmöglich ist, ihre tatsächlichen Arbeitszeiten nachzuweisen. Nun wendete der EuGH lediglich längst existierendes EU-Recht an. Mit dem Urteil vom 14. Mai 2019 (C-55/18) verpflichtet der EuGH die Regierungen / Gesetzgeber in allen EU Ländern, das seit 2003 geltende EU-Recht weiter zu fassen als bisher – und die technische Umsetzung zu fordern.

Per Gesetz werden Arbeitgeber verpflichtet, „ein objektives, verlässliches und zugängliches System einzuführen, mit dem die von einem jeden Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann“. Damit sind Aufzeichnungen auf Papier erledigt. Nur ein elektronisches System in Echtzeit-Erfassung und -Speicherung erfüllt diese Vorgabe.

Das Urteil betrifft:

  • Höchstarbeitszeiten
  • Pausenzeiten
  • Mindestruhezeiten
  • Urlaubszeiten
  • Abrechnungen tatsächlich geleisteter Arbeitszeiten

Aktuelle Rechtslage in Deutschland

In Deutschland gilt das Arbeitszeitgesetz: Der Arbeitgeber ist verpflichtet, die über die werktägliche Arbeitszeit des § 3 Satz 1 hinausgehende Arbeitszeit der Arbeitnehmer aufzuzeichnen und ein Verzeichnis der Arbeitnehmer zu führen, die in eine Verlängerung der Arbeitszeit gemäß § 7 Abs. 7 eingewilligt haben. Die Nachweise sind mindestens zwei Jahre aufzubewahren.
Im Arbeitszeitgesetz geht es in dieser Hinsicht bisher also nur um Überstunden sowie Sonn- und Feiertagsarbeit.

Die einzige darüber hinausgehende Verpflichtung zur Aufzeichnung der Arbeitszeit findet sich in § 17 des Mindestlohngesetzes, um den Mindestlohn nicht durch unbezahlte Mehrarbeit zu umgehen.

Nach der Rechtsprechung des EuGH ist nun nicht mehr nur die Mehrarbeit, sondern die gesamte Arbeitszeit vollständig zu dokumentieren. Bereits bestehende Zeiterfassungssysteme sind gegebenenfalls anzupassen. Bei gegebenenfalls vorhandenen Betriebsvereinbarung über flexible Arbeitszeiten könnte ein Anpassungsbedarf bestehen. Flexible Arbeitszeitmodelle müssen wahrscheinlich neu organisiert werden.

Preisfrage: Ab wann?

Nun ist die Frage, wie schnell das Urteil vom Deutschen Bundestag umgesetzt wird. Realistisch ist ein Inkrafttreten spätestens 2020. Die Arbeitgeber (nicht nur in der Pflege, sondern in allen Branchen) stehen bald ähnlich wie bei der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) unter Handlungsdruck. Es ist ratsam, sich jetzt schon darauf vorzubereiten.

Als Zeiterfassungssysteme bei ambulanten Pflegediensten taugen keine Stechuhren, da man sie nicht bei Patienten aufstellen kann. Praktikabel sind Zeiterfassungs-Apps, die über Mobilfunk die Daten an die Software des Arbeitgebers senden (Lohn- und Gehaltsabrechnung, Human Resources Modul im Warenwirtschafstsystem und / oder eine Software speziell zur Umsetzung der neuen Arbeitszeiterfassungs-Gesetze).

Sonderfall Pflegedienste / medizinische Leistungen

Die Vergütungen von Pflegediensten und fast allen medizinischen Leistungen hängen von gesetzlichen Regelungen (vor allem vom 5. Sozialgesetzbuch) und den Leistungskatalogen der Krankenkassen ab. Die Politik gab 2004 mit dem „GKV-Moderinierungsgesetz“ die Entscheidungen an ein Komitee ab und beauftragte den „Gemeinsamen Bundesausschuss“ (G-BA) mit allen Entscheidungen über erstattungsfähige Leistungen.

„Gemeinsam“ heißt, dass weder Politik noch Pfleger noch Pflegedienste noch Patienten vertreten sind, sondern ausschließlich Kassen-, Krankenhaus- und Ärztevertreter sowie 3 „Unabhängige“ (offizielle Bezeichnung). Die Unabhängigen sind ein CDU-Politiker, ein Jura-Professor sowie mit Monika Lelgemann eine weitere Ärztin und Vertreterin der evidenzbasierten Medizin.

Der G-BA legt bisher fest, was als erstattungsfähige Pflegeleistung gilt und wie hoch die Vergütungen einzelner Pflegeleistungen (bzw. aller erstattungsfähigen medizinischen Leistungen) sind.

Wir zitieren hierzu Wikipedia:

Dem G-BA wurde vorgeworfen, er sei ein Instrument von Krankenkassen und Politik zur Rationierung im Gesundheitswesen zu Lasten der Patienten. Der G-BA wird oft als „kleiner Gesetzgeber“ oder als das „Zentralkomitee des Gesundheitswesens“ bezeichnet.

Die Deutsche Stiftung Patientenschutz, die sich um Schwerstkranke und Sterbende kümmert, will nun auch Vertreter in den Gemeinsamen Bundesausschuss entsenden. Das Gesundheitsministerium hat das abgelehnt. In diesem Zusammenhang ist nunmehr eine Klage beim Sozialgericht Düsseldorf (Az: S11 KR 331/14) anhängig. Die Stiftung verklagt die Bundesrepublik Deutschland.

Das SGB V schreibt vor, dass Leistungen der Gesetzlichen Krankenversicherung „ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich“ sein müssen und „das Maß des Notwendigen nicht überschreiten“ dürfen. Was ausreichend und notwendig ist, beschäftigt regelmäßig die Gerichte.

Beim G-BA kommt Bewegung ins System: Bundesgesundheitsminister Jens Spahn will sein Ministerium künftig in bestimmten Fällen allein entscheiden lassen, welche Untersuchungs- und Behandlungsmethoden die Krankenkassen bezahlen müssen. Wir beobachten aufmerksam, was sich diesbezüglich bei Pflegeleistungen ändert.

Denn bei der Betreuung von Pflegepatienten gibt es Leistungen, die unverzichtbar sind, aber durch das SGB V und die Entscheidungen des G-BA nicht von der gesetzlichen Krankenversicherung übernommen werden dürfen.

Hier wird es durch das Urteil zur Arbeitszeiterfassung wahrscheinlich zu Klagen von Pflegediensten kommen, um die Frage zu klären: Muss auch bei notwendigen Leistungen, für die ein Pflegedienst kein Geld erhält, die Arbeitszeit erfasst werden? Wir warten mit Spannung auf das erste Gerichtsurteil hierzu – und auf Entscheidungen des Bundesgesundheitsministers.

Vorteile auch für Arbeitgeber

Für Arbeitgeber bedeutet die Zeiterfassung zwar Zeitaufwand und Kosten für die Investition. Aber es bringt auch Vorteile. Man hat eine Anwesenheitsübersicht in Echtzeit, kann seinen Personalbedarf datenunterstützt viel genauer planen, erhält betriebswirtschaftliche Statistiken, und vieles mehr (mehr Infos).