Kommt das große Kliniksterben in Deutschland? Ist es notwendig oder vermeidbar? Hat Karl Lauterbach Recht, der noch 2019 die Schließung der Hälfte aller Krankenhäuser forderte?

Einerseits hat Deutschland mit rund 7,7 Krankenhausbetten pro 1000 Einwohner nach Südkorea (12,63) und Japan (ebenfalls 12,63) die dritthöchste Krankenhausbetten-Dichte der Welt, knapp vor Österreich (7,05).

Andererseits ist es lebensgefährdend, dass in vielen ländlichen Regionen zum Beispiel bei einem Schlaganfall oder Herzanfall der Weg in die nächste Krankenhaus über eine halbe Stunde dauert. Der Krankenhausatlas des Statistischen Bundesamtes zeigt bei näherer Betrachtung große Lücken, vor allem in Ostdeutschland, aber auch in Regionen wie Niedersachsen:

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Überversorgung und Widersprüche

Wie das Ärzteblatt noch im Februar 2023 berichtete, „trat Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach Vorwürfen entgegen, die von ihm ge­plante Krankenhausreform führe zur Schließung von Kliniken“. Das Ärzteblatt zitiert Lauterbach mit: „Das Gegenteil ist der Fall“, die Krankenhausreform sei „unbedingt erforderlich, um Überversor­gung abzubauen und das ganze System zu entökonomisieren.“

Wenn das Gegenteil der Fall wäre, würde das bedeuten, dass mehr Kliniken eröffnet werden. Lauterbach schiebt sogleich einen Widerspruch hinterher, in dem er das abbauen möchte, was er als „Überversorgung“ bezeichnet.

Überversorgung ist eine Frage des Maßstabs. Gemessen am finanziell Machbaren (für alles ist beliebig viel Geld da, wenn es politisch erwünscht ist) und am künftigen Bedarf (Altern der geburtenstärksten Jahrgänge) hat Deutschland keine Überversorgung. Nimmt man ärmere Länder als Maßstab, ist Deutschland überversorgt.

Bereits 2016 erklärte Lauterbach dem Spiegel:

„Wir müssen Kliniken schließen. Das ist notwendig, um die Qualität der Versorgung dauerhaft zu verbessern.“

Lauterbachs Argument:

„Im Moment verteilen wir eine beschränkte Zahl von Fachleuten auf zu viele Krankenhäuser. In der Folge haben wir an vielen Standorten zu wenig oder gar keine Expertise.“

Der Ärztemangel wirft die Frage auf, warum die Regierungsparteien die Zahl der Studienplätze für Medizin nicht erhöhen, sondern mit einem extremen Numerus Clausus enorm beschränken. Die Antwort liegt auch hier in finanziellen Prioritäten, die gesellschaftlich statt parteipolitisch diskutiert werden müssen.

Der Mangel an Pflegekräften ist ebenfalls mit mehr Geld aus dem Bundeshaushalt behebbar: Motivierend höhere Gehälter würden den Pflegeberuf so aufwerten, dass Aussteiger zurückkehren, mehr junge Menschen den Beruf ergreifen und die Arbeitsbedingungen besser werden. Sollte sich ein Bundesgesundheitsminister nicht dafür einsetzen, das Problem der Unterfinanzierung zu bekämpfen?

Zur Erinnerung: Zur Bewältigung der Corona-Krise waren laut ZDF 1,3 Billionen Euro kein Problem. Allein im Gesundheitswesen waren laut Tagesschau jährlich 21 Milliarden Euro zusätzlich finanzierbar. Seit Notenbanken wie die EZB, die FED, die Bank of Japan, die Bank of England, etc. grenzenlos Staatsanleihen aufkaufen, gibt es das Argument eines Mangels an Geld u.a. in der EU ohnehin nicht mehr.

Der Bundesgesundheitsminister hat im Zusammenspiel mit Ländern und Kommunen zwar nicht die alleinige Gestaltungsmöglichkeit, denn die Krankenhausplanung liegt allein in der Hand der Bundesländer. Aber den größten Einfluss auf die Budgets und die Zukunft der deutschen Krankenhäuser hat auf jeden Fall der jeweilige Bundesgesundheitsminister.

Masse vs. Klasse?

Zurück zu Lauterbachs Argument der fehlenden Expertise. Im Spiegel-Interview von 2016 führte er dazu weiter aus:

„Ein Beispiel ist die Krebsbehandlung. Deutschland gibt in der Krebstherapie vergleichsweise viel aus, bei den Erfolgen liegen wir aber nur im Durchschnitt. Wir haben einige wenige Kliniken, die spezialisiert sind auf moderne Krebstherapien. Deren Resultate sind sehr gut, sie können sich mit den besten Kliniken in den USA messen. Vielen anderen Häusern fehlt es aber an Erfahrung und Ausstattung, sie reichen nicht im Ansatz an diese guten Ergebnisse heran. Zu viele kleine Kliniken kosten vielen Patienten das Leben.“

Dem ist zu entgegnen, dass Krebsbehandlungen stets planbar sind. Bis zu eine Stunde Fahrt für eine Therapiesitzung ist selten ein Problem (zur Not mit einem von der Krankenkasse erstatteten Taxi). Wenn es jedoch um die schnellstmögliche Versorgung bei Unfällen, Schlaganfällen, Herzinfarkten, Nierensteinen, etc. geht, ist jede zusätzliche Minute Fahrzeit zum nächsten Krankenhaus zumindest unzumutbar und oft potentiell tödlich. Ein halbwegs engmaschiges Netz von Grundversorgungs-Krankenhäusern rettet viele Leben und ist auch eine höchst nützliche Reserve bei den erwarteten kommenden Pandemien. Dass Reserven nicht maximal effizient sind, ist das Wesen von Reserven. Bei angemessenen Reserven überwiegen die Vorteile.

Karl Lauterbach Kliniksterben Krankenhaus Schließungen Am deutlichsten werden Lauterbachs Widersprüche, wenn man das eingangs zitierte Ärzteblatt vom Februar 2023 betrachtet. Demnach „trat Lauterbach Vorwürfen entgegen, die von ihm ge­plante Krankenhausreform führe zur Schließung von Kliniken“.

Am 04.06.2019 verkündete Lauterbach jedoch auf Twitter: „Jeder weiß, dass wir in Deutschland mindestens jede dritte, eigentlich jede zweite, Klinik schließen sollten. Dann hätten wir anderen Kliniken genug Personal, geringere Kosten, bessere Qualität, und nicht so viel Überflüssiges. Lander und Städte blockieren.“

Damit erklärte Karl Lauterbach das Kliniksterben zur politischen Notwendigkeit.

Ein weiteres widersprüchliches Zitat von Lauterbach: „Wir müssen Kliniken schließen. Ohne die Reform kommt es flächendeckend zu einem unkontrollierten Kliniksterben. Dann würden in den nächsten Jahren in Deutsch­land im großen Stil Kliniken schließen müssen. “

Er sagt also zuerst, dass „wir“ mit der Reform Kliniken schließen müssen, und dann, dass Kliniken ohne Reform schließen müssen. Man stolpert dabei auch über das Wort „unkontrolliert„. Das kann man nur so verstehen, dass kontrollierte Schließungen seine Absicht sind – was er durch andere Aussagen (siehe oben) auch bestätigt.

Ein weiterer Widerspruch ist seine Forderung, „das ganze System zu entökonomisieren“. Als ehemaliger Aufsichtsrat der Rhön-Klinikum AG trat der studierte Gesundheitsökonom Lauterbach 12 Jahre lang für die maximale Ökonomisierung und Privatisierung des Gesundheitssystems ein. Sogar das Universitätsklinikum Gießen-Marburg wurde zum Teil der Rhön-Klinikum AG.

Wie u.a. bei Wikipedia nachzulesen ist, war Lauterbach zudem „an der Einführung des Fallpauschalensystems beteiligt, das in der Kritik steht, Fehlanreize zu setzen und in manchen Bereichen zu einer Mangelversorgung zu führen. Später forderte er Modifikationen des Systems und eine teilweise Abkehr davon in einzelnen Bereichen.“

Die Fallpauschalen sind einer der wichtigsten Gründe für die finanziellen Probleme der Krankenhäuser. Hinzu kommen stark gestiegene Energiekosten sowie von den Regierungsparteien verbotene Operationen, die zu erheblichen Einnahmeausfällen führten und nur unzureichend kompensiert wurden, sowie Umsatzausfälle durch von den Regierungsparteien vergraulte Pflegekräfte.

Im Bundestag stimmte Lauterbach gegen die Erhöhung des Regelsatzes der Grundsicherung, gegen die Freigabe von Patenten für Impfstoffe und gegen eine Transparenzregelung für Abgeordnete. Das unterstreicht seine Haltung, wenn es darum geht, Prognosen für seine Krankenhaus-Politik zu erstellen.

Deutsche Krankenhausgesellschaft: Schließungen und Umbau unvermeidbar

Gesprächspartner und in diesem Fall Gegenspieler des Bundesgesundheitsministers ist vor allem der Vorstandsvorsitzende der DKG, Gerald Gaß. Seine Prognose:

„Sehr viele Kliniken würden ihren bisherigen Auftrag zur Patientenversorgung ganz verlieren oder müssten sehr weitgehend umgestaltet werden. Derart massive Veränderungen würden zu erheblichen Verwerfungen führen und sind sicher nicht erforderlich, um die Krankenhausversorgung zukunftsfest zu machen.“

Die 1.697 deutschen Krankenhausstandorte sollen bei der Reform in 4 Levels unterteilt werden:

  • 416 in Level 1i der Grundversorgung mit ambulanten Leistungen
  • 834 in Level 1n der Grundversorgung mit Notaufnahme
  • 82 in Level 2 der Schwerpunktver­sorgung
  • 150 in Level 3 der Maximalversorgung

215 Standorte wurden bisher keinem dieser Versorgungslevel zuge­ordnet.

Laut Auswirkungsanalyse der Deutschen Krankenhausgesellschaft „müssten sich infolgedessen 52 Prozent aller werdenden Mütter einen neuen Standort für die Geburt suchen. 56 Prozent der Patientinnen und Patienten in der interventionellen Kardiologie müssten das Krankenhaus wechseln. In der Urologie wären es 47 und in der Neurologie 39 Prozent.“

Der Katholische Krankenhausverband Deutschlands (kkvd) erklärte, dass „ins­besondere das Konzept von bundeseinheitlichen Versorgungsleveln realitätsfremd ist und die Pläne dramatische Aus­wirkungen auf die Versorgung der Patienten hätten“. Der Deutsche Evangelische Krankenhausverband (DEVK) „befürchtet strake Unwuchten und weitreichende Verwerfungen in der bestehenden Krankenhauslandschaft“.

Die Krankenkassen haben wiederum vor allem die Kostenentwicklung im Fokus.

Lauterbachs „Regierungskommission für Krankenhäuser“ plant mit „sachgerecht kalkulierten, degressiven Tagespauschalen“. Degressiv bedeutet: Für den ersten Tag gibt es den höchsten Satz, und mit jedem Tag weniger. Wie bei den Fallpauschalen führt dies zu den sogenannten „blutigen Entlassungen“, bei denen die Kliniken die Patienten schnellstmöglich entlassen. Desweiteren wünscht die Kommission 128 „Leistungsgruppen“, die bürokratisch abgerechnet werden sollen.

Die Deutsche Krankenhausgesellschaft hat bei der großen Krankenhausreform resigniert. Gaß erklärte:

„Die Auswirkungen des demografischen Wandels erfordern mutige, zukunftsorientierte Schritte zur Umgestaltung unseres Gesundheitswesens, nicht nur der Krankenhausversorgung. Es ist unstrittig, dass es nicht möglich sein wird, in den heutigen Versorgungsstrukturen die notwendigen Gesundheitsleistungen von morgen zu erbringen. Wir werden die vorhandenen Strukturen im ambulanten und stationären Bereich nicht unverändert lassen und sie mit einer ausreichenden Zahl an Fachkräften ausstatten können“.

Das seit Jahren laufende Kliniksterben wird sich also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht nur fortsetzen, sondern beschleunigen, vor allem in den Großstädten. In Anbetracht des zunehmenden Bedarfs der alternden Bevölkerung sind das alarmierende Aussichten.

Wie Gerald Gaß von der DKG betonte, müsse so vorgegangen werden, „dass die Krankenhäuser im Rahmen der Umgestaltung der Kranken­hauslandschaft möglichst wenige Mitarbeitende verlören – gerade im Bereich der Pflege“. Denn bei Pflegen­den sei die Bereitschaft deutlich geringer, über weite Strecken zu pendeln, als bei Ärzten.

Bei dieser Gelegenheit sei daran erinnert, dass immerda Pflegekräften, die nach Alternativen zum Krankenhaus suchen, enorm attraktive Arbeitsbedingungen bietet.

 

Text: Jörg Gastmann für immerda GmbH