Bundespräsident Steinmeier griff im Juni die Idee auf, für alle jungen Menschen nach der Schule ein soziales Pflichtjahr einzuführen. Welche Vorteile und Nachteile hat dieses Konzept für die Verpflichteten, Pflegebedürftigen und Pflegekräfte?

Soziales Pflichtjahr (SPJ): Vor allem eine Frage der Motivation?

Nach Zivis (Zivildienst) Bufdis (Bundes-Freiwilligen-Dienst) und FSJs (Freiwilliges Soziales Jahr) sollen nun die „SPJs“ mit einem sozialen Pflichtjahr die Krise in der Pflege zumindest ein wenig mindern.

Im Wort „Pflichtjahr“ stecken gleich zwei Probleme. Erstens bedeutet „Pflicht“, das man etwas aufgezwungen bekommt. Zweitens ist ein Jahr eine recht lange Zeit für eine Pflicht.

Hat Marcel Fratzscher Recht? In der FAZ vom 17.06.22 schrieb Fratzscher:

„Die Forderung nach einem verpflichtenden sozialen Jahr ist letztlich das Eingeständnis des Scheiterns von Politik und Gesellschaft, unser Zusammenleben solidarisch zu gestalten und sozialen Zusammenhalt zu gewährleisten.“

Ganz anders sieht das Heribert Prantl. Bereits 2018 schrieb er in der Süddeutschen Zeitung:

„Viele von denen, die seinerzeit den Zivildienst widerwillig angetreten haben, sagen heute, es sei „die beeindruckendste Zeit“ in ihrem Leben gewesen. Man mag das aufgedrängte Bereicherung nennen, aber es ist trotzdem eine. „

Das SPJ Konzept ist nur teilweise vergleichbar mit dem 2011 abgeschafften Zivildienst, da hier die Verpflichteten die Wahl zwischen Wehrdienst und Zivildienst hatten. Wer keinen Zivildienst leisten wollte, ging zur Bundeswehr. Das war auch eine Frage der unterschiedlichen Persönlichkeiten und Motivation.

Noch weniger vergleichbar ist das SPJ mit dem freiwilligen sozialen Jahr (FSJ), da dessen Freiwillige eine hohe Eigenmotivation mitbringen. Das wirft die entscheidende Frage auf:

Kann eine Dienstpflicht funktionieren, wenn (zu) viele der Verpflichteten keine Motivation dafür haben?

Keine Idee hat ausschließlich Vor- oder Nachteile. Betrachten wir also das Pros und Contra aus mehreren Perspektiven, nämlich aus der Sicht der Verpflichteten, Pflegebedürftigen, Pflegekräfte, sozialer Dienste, Vereine und Staat:

Was spricht für ein soziales Pflichtjahr?

  • Wer selbstlos anderen hilft, tut nicht nur etwas für andere Menschen, sondern auch für sich selbst. Wer anderen hilft, fühlt sich selbst gut. Man lernt die eigene Persönlichkeitsstruktur besser kennen und entdeckt Neigungen, Wünsche, Talente und auch Abneigungen und Defizite. Statt Dinge passiv für selbstverständlich zu nehmen und sie an Politiker und Beschäftigte im Sozialsystem abzuwälzen, nimmt man eine neue, aktive Perspektive ein. Wer aktiv im System arbeitet, versteht besser, wo dessen Probleme liegen. Das gibt einem die Möglichkeit, sich persönlich weiter zu entwickeln.
  • Manche der SPJs werden nach diesem 1-Jahres-Praktikum einen sozialen Beruf ergreifen, über den sie zuvor gar nicht nachgedacht haben.
  • Wem die Aufgabe und das Unternehmen gefällt und wer dabei einen guten Eindruck hinterlässt, hat einen optimalen Einstieg für einen dauerhaften Arbeitsplatz.
  • Wie früher bei der Wehrpflicht und dem Zivildienst gewinnen Schulabsolventen, die noch nicht wissen, welchen Beruf bzw. welche Ausbildung oder welches Studium sie ergreifen möchten, ein Jahr Bedenkzeit. Außerhalb der berufsfernen Schul-Blase kommen sie mit der Arbeitswelt, Berufstätigen, Abläufen etc. in Kontakt. All das fördert eine passendere Entscheidung über den eigenen Berufsweg.
  • Man kann eine eventuelle Wartezeit auf einen Studienplatz sinnvoll und ohne Lücke im Lebenslauf überbrücken. Je nach gesetzlicher Ausgestaltung des SPJ kann man es auch als Praktikum im Studium anrechnen lassen und die Studiendauer verkürzen.
  • Pflegebedürftige profitieren direkt von leichten Arbeiten und indirekt davon, dass die SPJs (zumindest teilweise) die professionellen Pflegekräfte entlasten und mehr Zeit gewinnen.
  • Pflegekräfte werden – wenn das SPJ gut organisiert ist und die Motivation der eingesetzten hoch genug ist – mehr Zeit für ihre Kernaufgaben haben.
  • Soziale Projekte außerhalb des Pflegebereichs (je nach SPJ-Gestaltung auch Kitas, Schulen, Kulturprojekte, ökologische Projekte, Sportvereine, Denkmalpflege, Entwicklungshilfeprojekte, etc.) gewinnen mehr Personal.
  • Der Staat schönt die Arbeitslosenstatistik, da ein kompletter Jahrgang aus der Nachfrage nach Arbeitsplätzen verschwindet.

Was spricht gegen ein soziales Pflichtjahr?

  • Ein großer Teil der SPJs (wahrscheinlich die Meisten) haben keine (ausreichende) Motivation für die aufgezwungene Arbeit, noch dazu in einem Bereich, der nicht jedermann liegt.
  • Es gibt unterschiedliche Persönlichkeitsstrukturen. In unserem Beitrag „Was bedauern Sterbende am meisten?“ erläuterten wir, dass es Menschen unglücklich macht, wenn sie etwas tun, was nicht zu ihrer Persönlichkeitsstruktur passt. Es gibt zum Beispiel die 4 Grundausrichtungen des Menschen nach Riemann und Thomann: Distanz, Nähe, Dauer, Wechsel.
    Typisch für soziale Berufe ist der „Nähe“-Typ. Menschen mit hauptsächlich dieser Ausrichtung wollen und brauchen genau das Gegenteil von dem, was Distanzmenschen brauchen: Nähe zu anderen Menschen, Bindung, Zuneigung, Vertrauen, Sympathie, Mitmenschlichkeit, Geborgenheit, Zärtlichkeit, Harmonie, brauchen Wärme, Bestätigung. Sie sind selbstlos bis zur Selbstaufgabe, haben soziale Interessen, können sich leicht mit anderen identifizieren und sich selbst vergessen. Nähemenschen sind kontaktfähig, teambereit, ausgleichend, akzeptierend und verständnisvoll. Sie neigen aber auch zu Abhängigkeit, da sie ungern alleine sind. Sie haben eine Opfermentalität und sind aggressionsgehemmt.“
    Wenn Menschen in Tätigkeiten gewzungen werden, die unvereinbar mit ihrer Persönlichkeit sind, besteht die Gefahr, dass sie aggressiv gegen sich und andere werden, die Arbeit sabotieren oder bestenfalls widerwillig Dienst nach Vorschrift machen.
  • Die Berufslaufbahn der SPJs wird um 1 Jahr verkürzt. Da die gesamte Karriere mitsamt seiner Gehaltssteigerungen nach hinten verschoben wird, muss man nicht das erste, sondern das letzte Jahres-Einkommen vor der Rente vom Gesamteinkommen eines Erwerbslebens abziehen.
    Beim FSJ erhält man 150-500 Euro Aufwandsentschädigung. Nehmen wir an, die SPJs würden 500 Euro monatlich, also 6.000 Euro Jahreseinommen erhalten. Nehmen wir an, jemand hätte (inflationsbereinigt) in seinem letzten Berufsjahr ein Nettoeinkommen von 36.000 Euro netto. Dann kostet das SPJ die Schulabsolventen rund 30.000 Euro. Das wäre nur vertretbar, wenn der Staat diesen Einkommensausfall ersetzt.
  • Da das letzte Erwerbsjahr fehlt, fehlen auch die Rentenbeiträge hierauf. Die SPJs werden eine niedrigere Rente erhalten – sofern es keinen Zuschuss gibt, ähnlich der Anrechnung von Ausbildungs- und Kindererziehungszeiten bei der Rentenberechnung.
  • Laut „Deutschem Berufsverband für Pflegeberufe“ drohen „moralische Verletzungen“, weil Pflegekräfte nicht das tun können, was die Patienten benötigen und erwarten.
  • Es besteht die Gefahr, dass Aufgaben, die eine Ausbildung erfordern, wie heute oft üblich, an angelernte Hilfskräfte übertragen werden. Das steigert das Risiko von Schäden für die Pflegebedürftigen.
  • Es könnte einen Druck auf die Gehälter der Pflegekräfte geben. Wie wir im vorangegangenen Beitrag über den steigenden Anteil ungelernter Hilfskräfte in der Pflege schrieben, stiegen in den letzten Jahren Helfertätigkeiten sowohl in der stationären als auch in der ambulanten Pflege ganz erheblich. Ohne die Hilfskräfte hätten die Gehälter in der Pflege stärker steigen müssen.
  • Der Fachkräftemangel einiger Branchen verschärft sich, da ein kompletter Jahrgang aus dem Angebot an Arbeitskräften verschwindet.

Fazit?

Die Zahl der pflegebedürftige Menschen wird laut Bundesgesundheitsministerium von heute 4,1 Mio. (aktuellste Zahl von 2019) auf 6,5 Mio. Pflegebedürftige 2050 steigen.

Den enormen Mangel der Pflegekräfte mit einem sozialen Pflichtjahr zu verringern, statt den Beruf attraktiver zu machen, ist ein Weg, dessen Vorteile und Nachteile man zuerst gründlich debattieren sollte, bevor die Politik es beschließt.

Was spricht dagegen, das Freiwillige Soziale Jahr weitaus attraktiver zu machen?

Text: Jörg Gastmann für immerda GmbH