2 Millionen Euro pro Patient kostet das Medikament „Zolgensma“ zur Behandlung spinaler Muskelatrophie. Krankenkassen wollen das nicht zahlen. Patienten sind verzweifelt.

Wer an spinaler Muskelatrophie (SMA) leidet, hat im genetischen Gesundheitslotto Pech gehabt. Nur jeder zehntausendste Mensch erkrankt daran. Für die Betroffenen heißt das: Degenerierung von Nervenzellen, Muskelschwund, Wirbelsäulen- und Brustkorbdeformation und (bei Typ 1) ein furchtbarer Tod. Viele Kinder sterben in den ersten 3 Lebensjahren durch Atemversagen. Zwei Drittel der Kinder sterben vor dem 10. Lebensjahr.

Eine schreckliche Krankheit, bei der niemand die Frage stellen sollte, ob man die schnellstmöglichen Behandlungen aus finanziellen Gründen verweigern darf.

Seltene und „verwaiste“ Krankheiten: Was darf ein Menschenleben kosten?

An sogenannten „verwaisten“ Krankheiten forscht niemand, weil zu wenige Patienten betroffen sind, als dass die Pharmaindustrie oder die Regierungsparteien Geld dafür aufwenden wollen. Bei seltenen Krankheiten wie spinaler Muskelatrophie haben die Betroffnen immerhin die Hoffnung auf Heilung.

Die entscheidende Frage bei seltenen und verwaisten Krankheiten lautet: Was darf ein Menschenleben kosten? Im Falle von SMA liegt der Preis für Zolgensma bei 2 Millionen Euro für eine Einmaldosis, die laut Hersteller Novartis die Krankheit gentechnisch heilen kann. Das ist sogar günstiger als das auch erst seit 2016 erhältliche Medikament Spinraza, dass rund 350.000 Euro kostet – und zwar jedes Jahr, als Dauertherapie ohne permanente Heilung.

Laud Deutscher Ärztezeitung ist Zolgensma in den USA bereits zugelassen. In der EU soll dies voraussichtlich spätestens im März 2020 geschehen. Die Krankenkassen, der Gemeinsame Bundesaus­schus­s und der Ver­band der Universitätskliniken forderten 2019 Gesundheitsminister Jens Spahn auf, gesetzlich festzuschreiben, dass…

  • noch nicht in Deutschland zuge­lassene Arzneimittel nur „sehr kritisch“ im konkreten ein­zelnen Härtefällen verschrieben werden. (Frage: Ist nicht jeder SMA-Fall ein Härtefall?)
  • Experten des Medizinischen Dienstes der Kran­ken­kassen erst grünes Licht geben müssten. (Frage: Warum sollen die behandelnden Ärzte das nicht eintscheiden dürfen?)
  • die Abgabe und Therapie „aus­­schließlich in hochspezialisierten Zentren“ erfolgen müsse. (Frage: Warum muss es für die Patienten lange Wege geben?)
  • die Behandlungsverläufe zu dokumentieren seien. (Frage: Was wäre daran neu?)
  • eine qualitätsgesicherte Anwendung durch den G-BA festgelegt werden müsse (Frage: Warum nicht wie üblich durch die behandelnden Ärzte?)
  • alle noch nicht zuge­lassenen Arzneimittel nur in den Fällen zulasten der gesetzlichen Krankenkassen verordnet werden können soll­ten, „bei denen unmittelbare Lebensgefahr ohne erfolg­versprechende Alternativtherapie besteht.“ (Frage: Warum müssen Patienten erst in Lebensgefahr sein, bevor die Krankenkassen und der G-BA ihnen Hilfe gestatten wollen?)
  • bei „lebensbedrohlich er­krankten Patienten ohne Therapiealternative mit nicht zugelassenen Arzneimitteln“ soll der jeweilige pharmazeutische Hersteller die Kosten tragen. (Frage: Welcher Hersteller würde dann noch an seltenen Krankheiten forschen?)

Bei den Absichten der Krankenkassen, des G-BA und der Universitätskliniken (denen die Kosten ohnehin egal sein können) drängen sich außerdem ethische Fragen auf:

  • Warum regen sich gesunde Menschen über Kosten auf, wenn diese teuer zu behandelnden Krankheiten extrem selten und daher in der Gesamtsumme vernachlässigbar sind?
  • Warum können sich nicht betroffene Menschen nicht daran erfreuen, dass sie von der schrecklichen Krankheit verschont geblieben sind?

Gewinnorientierte Forschung

Um das Tauziehen einzuordnen, muss man die Ziele von Patienten, Pharmaindustrie, Krankenkassen, Ärzten und Regierung unterscheiden: Die Pharmaindustrie besteht aus Aktiengesellschaften, die möglichst hohe Gewinne für die Aktionäre erzielen wollen. Krankenkassen sind einerseits zum sparsamen Umgang mit Beiträgen und andererseits zur Finanzierung notwendiger Therapien verpflichtet. Ärzte wollen ohne Rücksicht auf die Kosten alle Therapiemöglichkeiten ausschöpfen. Regierungsparteien und Gesundheitsminister müssen einen Kompromiss zwischen dem Wunsch der meisten Wähler nach geringen Beiträgen und den Interessen erkrankter Patienten finden.

Zwischen diesen unterschiedlichen Interessen sitzen die betroffenen Patienten und können nur hoffen.

Die Regierungen praktisch aller Länder lassen kaum staatliche Stellen forschen, sondern fast nur die Pharmaindustrie. Diese nutzt dazu teilweise auch die Forschungseinrichtungen der mit öffentlichen Geldern finanzierten Hochschulen. Ob an einer Krankheit geforscht wird, oder ob sie eine „verwaiste Krankheit“ („orphan disease“) bleibt, hängt von den Renditemöglichkeiten ab.

Was keinen Profit bringt, wird von privaten Aktiengesellschaften nicht erforscht. Besser gesagt: Dann kann es gar nicht erforscht werden. Wenn man der Pharmaindustrie zur profitlosen Forschung und zur Übernahme der Risiken einer erfolglosen Forschung verpflichtet, gibt es keine Pharmaindustrie mehr. Man kann man der Pharmaindustrie keinen Vorwurf daraus machen, die Forschung und die Risiken erfolgloser Entwickungen durch Produktpreise zu refinanzieren.

Gemeinnützige Forschung und Herstellung

Wenn die Regierungsparteien das Problem lösen wollen, müssen sie sowohl die Erforschung als auch die Produktion von Medikamenten bzw. Therapien zur Aufgabe staatlicher Einrichtungen machen. Das wäre durchaus möglich. Da allerdings der politische Wille fehlt, wird das nicht passieren.

Auf gar keinen Fall das das Leben und die Gesundheit von Patienten am Geld scheitern.