In Niedersachsen ging die bundesweit dritte Pflegekammer mit Pflichtmitgliedschaft für Pflegekräfte an den Start. Was spricht dafür und was dagegen?

Nach Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein gibt es nun auch für die über 80.000 Pflegekräfte in Niedersachsen eine Pflegekammer, um deren Interessen zu vertreten. Gleich als Erstes verschickte die Kammer in vielen Fällen Gebührenbescheide über 140 Euro für die ersten 6 Monate. Mit der Petition „Auflösung der Pflegekammer Niedersachsen und Beendigung der Zwangsmitgliedschaften von Pflegekräften“ gab es sofort Gegenwind: Knapp 50.947 Pflegekräfte unterschrieben die Petition zur Abschaffung, davon allein 44.198 in Niedersachsen. Die Nordwestzeitung berichtete: „Der Unmut wächst weiter“.

Eine Krankenschwester klagte gegen die ihrer Ansicht nach verfassungswidrige Zwangsmitgliedschaft, was das Oberverwaltungsgericht Lüneburg am 22.08.19 abwies. Bemerkenswert: Eine Revision vor dem Bundesgreichtshof wurde nicht zugelassen.

Eine weitere Interessenvertretung unter vielen – was kann sie erreichen?

Interessenvertretungen sind grundsätzlich wichtig. Für die Pflegekräfte setzen sich bereits ein:

An den Problemen der Pflegekräfte hat sich trotz der vielen Interessenvertreter nichts wirklich geändert. Das wirft natürlich die Frage auf, was eine weitere Interessenvertretung der Pflegekräfte erreichen kann, zumal die wichtigsten Entscheidungen dort fallen, wo Pflegekräfte überhaupt nicht vertreten sind:

Entscheidungen fallen im „Gemeinsamen Bundesausschuss“

Der begrenzende Faktor dabei ist das Budget im Gesundheitswesen. Jede Stelle und jedes Gehalt im Gesundheitswesen wird aus den Einnahmen der gesetzlichen und privaten Krankenversicherungen finanziert. Der „Gemeinsame Bundesausschuss“ entscheidet darüber, wie die Gelder verteilt werden. Davon ist abhängig, wie viele Stellen und welche Gehälter finanzierbar sind. Von der Zahl der Stellen hängen wiederum Arbeitsbelastung und Überstunden ab.

Wenn die Interessen der Pflegekräfte also wirksam vertreten werden sollen, muss das vor allem im Gemeinsamen Bundesausschuss geschehen. Aber wer ist dort vertreten? Der Ausschuss hat 13 stimmberechtigte Mitglieder.

  • Vorsitzender: CDU-Politiker Josef Hecken (Jurist)
  • 5 Vertreter der Krankenkassen
  • 2 Vertreter der Deutschen Krankenhausgesellschaft
  • 2 Vertreter der Kassenärztlichen Bundesvereinigung
  • 1 Vertreter der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung
  • Dr. med. Monika Lelgemann, Ärztin und ehemalige Vorsitzende des Deutschen Netzwerks Evidenzbasierte Medizin
  • Prof. Dr. med. Elisabeth Pott, Ärztin und ehemalige Direktorin der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung

Was fällt auf? Richtig: Weder Vertreter von Pflegekräften noch Patientensprecher sind vertreten.

Beitrag: Durchschnittlich rd. 100 Euro / Jahr

Für die Mitgliedschaft in Pflegekammern müssen die Pflegekräfte jährlich 0,4 Prozent ihres Jahreseinkommens, maximal aber 280 Euro entrichten. Nur Minijobber unter 450 Euro Monatseinkommen sind von den Zahlungen befreit. Für die meisten Pflegekräfte bedeutet das einen Jahresbeitrag von 80 bis 120 Euro jährlich. Wenn die Pflegekammer dieses Geld wert ist, spricht nichts dagegen.

Pro: Was spricht für Pflegekammern?

  1. Die Pflegekammern begründen ihre Existenz und die Beiträge mit ihrem Ziel, „politisch mehr Gehör zu finden und ihrem Berufsstand eine starke Stimme zu verleihen“. Das ist lobenswert, aber in Anbetracht der Misserfolge der anderen Interessenvertreter unrealistisch.
  2. Für die Kammern soll eine „Schaffung einer einheitlichen Berufsethik und Berufsordnung und Einschreiten bei Missachtung“ sprechen, was aber gar nicht umsetzbar ist (siehe unten, Kommentar von ver.di).
  3. Die versprochenen Leistungen „Beratung des Gesetzgebers, Beteiligung bei Gesetzgebungsverfahren und Kooperation mit der öffentlichen Verwaltung, Auslegung gesetzlicher Bestimmungen, Umsetzung von Gesetzen, Anfertigung von Sachverständigengutachten“ wären Pro-Argumente, aber es ist äußerst unwahrscheinlich, dass der Gemeinsame Bundesausschuss und die Regierungsparteien hier Macht abgeben.
  4. Die „Förderung, Überwachung und Anerkennung der beruflichen Fort- und Weiterbildung, Abnahme von Prüfungen, Festlegung von Standards für Ausbildung und Praxis“ wäre das Pendant zu IHKs und Handelskammern. Ob sich die jetzigen Träger dies abnehmen lassen?
  5. Auch bei der „Regelung der Gutachtertätigkeit und Benennung von Sachverständigen“ ist die Frage: Wird sich der medizinische Dienst der Krankenkassen (ist im Gemeinsamen Bundesausschuss vertreten) dies abnehmen lassen?
  6. Die „Schiedsstellentätigkeit zur Beilegung von Streitigkeiten, die sich aus der Berufsausübung zwischen den Mitgliedern oder diesen und Dritten ergeben“ könnte man als Argument für die Kammern betrachten. Allerdings ist fraglich, wie oft diese Leistung nötig ist, und ob dies Schiedstellentätigkeiten von Gewerkschaften und Betriebsräten ersetzen soll.

Es ist schwierig, Argumente für die Kammern zu finden, da bisher lediglich Absichtserklärungen formuliert wurden. In Anbetracht der Tatsache, dass die oben genannten anderen Interessenvertreter auch nichts erreichen konnten und die Kammervertreter nicht Teil der Entscheidungsgremien sind, sind die Chancen gering.

Contra: Was spricht gegen Pflegekammern?

  1. Die Beiträge sind zu hoch.
  2. Es gibt bereits mehrere Interessenvertretungen für Pflegekräfte. Erreicht haben sie nichts.
  3. Der finanzielle Spielraum für mehr Gehalt, mehr Stellen und damit auch weniger Arbeitsbelastung und weniger Überstunden und Schichtdienst wird im „Gemeinsamen Bundesausschuss“ entschieden. Die Pflegekammer kann hier lediglich freundliche Briefe schreiben und Gespräche führen, die dann lediglich ebenso folgenlos zur Kenntnis genommen werden wie Forderungen und Bitten von ver.di. Deutschen Pflegerat & Co.
  4. Die wichtigsten Entscheidungen fallen auf Bundesebene. Da die Pflegekammern lediglich Pflegekräfte einzelner Bundesländer vertreten, macht es noch unwahrscheinlicher, dass sie auf Bundesebene Gehör finden.
  5. Bei den bisherigen Pflegekammern in Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein sind keine Erfolge erkennbar.
  6. Die Pflegekammern sehen ihre Aufgabe auch in der „Beratung des Gesetzgebers, Beteiligung bei Gesetzgebungsverfahren, Auslegung gesetzlicher Bestimmungen, Umsetzung von Gesetzen, Anfertigung von Sachverständigengutachten“. Dass der Gemeinsame Bundesausschuss und die Politik dem zustimmen, ist eine sehr optimistische Einschätzung.
  7. Das „Einschreiten bei Missachtung der Berufsethik und Berufsordnung“ ist angesichts der Arbeitsüberlastung der Pflegekräfte wahrscheinlich ein weiterer Stressfaktor, der zu Kündigungen und Reduzierung von Vollzeit und Teilzeit und damit zu einer verschärfung des Problems führt.
  8. Bei Abstimmungen in Hamburg und Hessen stimmten nur jeweils 36 Prozent der Pflegekräfte für die Einführung. Das Hessische Sozialministerium hatte das Hessische Statistische Landesamt im Frühjahr beauftragt, alle in Hessen knapp 65.000 tätigen examinierten Pflegekräfte zu befragen.
  9. Bei „Umfragen“, laut denen die Pflegekräfte eine Pflegekammer befürworten, ist fraglich, ob sie repräsentativ sind. In Brandenburg wurden zum Beispiel lediglich 1.700 Pflegekräfte befragt, von denen nur 952 (56%) eine Kammermitgliedschaft grundsätzlich befürworteten. 53% sind allerdings gegen Pflichtbeiträge. In NRW wurden 2018 nur 1.500 Pfegekräfte befragt. Warum gibt man nicht allen Pflegekräften die Möglichkeit, abzustimmen?

Die Gewerkschaft ver.di ist skeptisch:

Die Pflegekammern wollen durch Berufsordnungen und die Überwachung der Berufspflichten vor unsachgemäßer Pflege schützen. Verstöße sollen sanktioniert werden. Es gibt bereits Berufsordnungen in Hamburg, Bremen, Saarland und in Sachsen. Da steht zum Beispiel drin – ich zitiere aus der Berufsordnung des Saarlands: ‚Pflegefachkräfte sind verpflichtet, ihren Beruf entsprechend dem allgemein anerkannten Stand pflegewissenschaftlicher, medizinischer und weiterer bezugswissenschaftlicher Erkenntnisse auszuüben.‘ Ein richtiges Ziel. Aber wie soll das gehen? Wenn ich als Krankenpflegerin in einem Krankenhaus arbeite, bei dem es hinten und vorne an Personal fehlt? Eine Berufsordnung verpflichtet abhängig Beschäftigte, ohne ihnen Mittel und Kompetenzen an die Hand zu geben, die Rahmenbedingungen zu beeinflussen oder gar zu ändern. Sie erhöht damit den Druck auf die Pflegekräfte, statt sie zu entlasten und die Verantwortung dahin zu geben, wo sie hingehört: Zu den Arbeitgebern und der Politik. … Gewerkschaften in der ehemaligen DDR kennen die Zwangsmitgliedschaft. Für uns ist das indiskutabel. Es muss eine freie Entscheidung bleiben, wo ich mich organisiere.“

(Sylvia Bühler, ver.di, aus „Mythos Pflegekammer – kann sie die Lösung sein?„, 12.04.2016

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